Die EU soll wettbewerbsfähiger werden. Der ehemalige italienische Ministerpräsident Enrico Letta empfiehlt daher Reformmaßnahmen – und mehr Europa. Was er genau in seinem Bericht "Much More than a Market: Speed, Security, Solidarity" vorstellt, hat die DIHK analysiert.
Zahlreiche Maßnahmen sollen die EU im globalen Wettbewerb stärken
Enrico Letta präsentiert seinen BerichtIm Binnenmarkt, dem freien Verkehr von Waren, Personen, Dienstleistungen und Kapital, ruht ein enormes Potenzial für Unternehmen, Arbeitskräfte und Verbraucher. Doch auch nach mehr als 30 Jahren bestehen aus Sicht der deutschen Wirtschaft erhebliche Defizite.
Binnenmarkt vollenden
Durch übermäßige und unverhältnismäßige Regulierung werden den Unternehmen hohe Kosten und rechtliche Unsicherheiten aufgebürdet. Beispielhaft kann der gesamte Bereich der Arbeitnehmerentsendung im Rahmen der Erbringung von Dienstleistungen genannt werden, wie auch in der DIHK-Binnenmarktumfrage 2024 näher dargelegt wird. Damit der Binnenmarkt als Motor für wirtschaftliches Wachstum und Wohlstand fungieren kann, ist es wichtig, dass der Markt auch als freier Markt erhalten bleibt. Stattdessen werden ihm vermehrt politische und geopolitische Zielsetzungen auferlegt – auch im Letta-Bericht, der den Markt ausdrücklich als politischen ansieht.
Der Bericht fokussiert große Visionen wie beispielsweise die Einführung einer neuen fünften Grundfreiheit zur Förderung von Forschung, Innovation und Bildung oder ein einheitliches Europäisches Gesellschaftsrecht. Zu kurz kommen dabei aus Sicht der DIHK Lösungsansätze, die die dringlichsten Probleme des wirtschaftlichen Alltags der grenzüberschreitend tätigen Unternehmen mindern könnten, etwa ein effektiver Rechtsschutz, auch von Investitionen, die einheitliche Durchsetzung des Rechts in der EU und damit der lückenlose Schutz der Rechtsstaatlichkeit als einem entscheidenden wirtschaftlichen Standortfaktor.
Verkehr und Infrastruktur sowie Telekommunikation – Netze verbinden
Der Telekommunikationsmarkt, bei dem Liberalisierungen auf nationaler Ebene in der Vergangenheit positive Effekte hatten, soll laut Letta noch stärker über Landesgrenzen hinweg integriert werden, um das Wachstum paneuropäischer Unternehmen zu stärken. Aktuell gebe es zu viele kleine Unternehmen im Markt, was Innovationen und Investitionen ausbremse. Weiterhin sollen im Bereich der Vergabe von Funkfrequenzen (Spektrumspolitik) und der Balance zwischen Telekommunikationsanbietern und Online-Plattformen Reformen angestoßen werden. Aus DIHK-Sicht muss hierbei vor allem darauf geachtet werden, dass kleine und mittlere Unternehmen (KMU) nicht zugunsten weniger großer Player aus dem Markt verdrängt werden.
Für den Verkehrsbereich legt der Bericht den Fokus auf das Ziel eines vollintegrierten transeuropäischen Netzwerks, bestehend aus Bahnverbindungen, Schifffahrt (Binnenverkehr und kurze Meeresrouten) sowie Straßen als Verbindungselement zwischen Städten, Häfen und Flughäfen. Konkrete Forderungen beinhalten erweiterte Fördersummen für das TEN-T-Netzwerk, den Ausbau des Schienen-Binnenmarkts (Hochgeschwindigkeitsnetze, grenzüberschreitende Ticketbuchung), die Vereinfachung grenzüberschreitender Mietwagenbuchungen, den Ausbau von Ladeinfrastrukturen, eine einheitlichere Flugaufsicht (Single European Sky 2), die Harmonisierung der Meeresschifffahrt und nachhaltigere Mobilität in Städten. Für die DIHK ist dabei wichtig, dass auch bewährte Strukturen in Logistik und Transport fortbestehen.
Erweiterung: Rechtstaatlichkeit im Fokus
Der Bericht betont die Bedeutung einer erfolgreichen EU-Erweiterung um die bekannten Kandidatenländer, mahnt jedoch einen nuancierten Ansatz sowie die enge Verknüpfung von wirtschaftlicher und politischer Integration basierend auf geteilten Werten an. Eine geschlossene EU-Haltung gegen Cherry-Picking des Binnenmarktzugangs ist auch eine Lehre aus den Brexit-Verhandlungen. Rechtsstaatlichkeit soll zudem ein zentrales Beitrittskriterium sein. Der neue Erweiterungsansatz sieht einen schrittweisen Beitritt der Kandidatenländer zum Binnenmarkt im Gegenzug für entsprechende Reformfortschritte vor. Für besonders von der EU-Erweiterung betroffene Wirtschaftssektoren soll eine Enlargement Solidarity Facility eingesetzt werden.
Handelspolitik: Mehr Wettbewerbsfähigkeit wagen
Im Bericht wird eine Reform der EU-Handelspolitik vorgeschlagen, die aus Wirtschaftssicht positiv zu bewerten ist. So sollen Fragen der Wettbewerbsfähigkeit wieder stärker bei den Handelsverhandlungen in den Fokus gerückt werden; handelsfremde Themen, die von Handelspartnern als Protektionismus gewertet werden, dagegen weniger. Auch soll die Handelspolitik besser mit Regulierungs- und Entwicklungspolitiken verzahnt werden. Zudem schlägt der Bericht vor, Handelsabkommen so zu verhandeln, dass sie nur die exklusiven EU-Kompetenzen betreffen und somit die Zustimmung des Europaparlaments – statt der Ratifizierung durch alle nationalen Parlamente – zu deren Inkrafttreten ausreicht.
Energie: Versorgungsengpässe verhindern
Damit der Übergang zu einer sauberen Energieversorgung gelingt, braucht es einen starken Binnenmarkt, bei dem Unternehmen die Freiheit haben, Energie jederzeit und an jedem Ort zu erschwinglichen und transparenten Preisen zu beziehen. Diese wichtige Voraussetzung erkennt der Bericht an. Während der Energiekrise im Jahr 2022 hat sich der Binnenmarkt zwar widerstandsfähig gezeigt und Stromausfälle oder Versorgungsengpässe verhindert, dennoch ist es bis zu einem vollständig wettbewerblich geprägten EU-Energiebinnenmarkt noch ein weiter Weg.
Der Bericht setzt daher bei der Umsetzung insbesondere auf eine stärkere gemeinsame Kooperation unter den Mitgliedstaaten bei Planung, Ausbau und Finanzierung. Letzteres ist stets eine heikle Frage – aus Sicht der deutschen Wirtschaft sollte jedoch darauf geachtet werden, dass bei einer Förderung vor allem Investitionszuschüsse getätigt werden und keine laufenden, operationellen Kosten staatlich kompensiert werden. Zudem ist die Idee einer "Clean Energy Delivery Agency", die alle Förderprogramme europaweit einheitlich bearbeiten soll, gut gemeint, allerdings stellt sich hier auch die Frage nach der praktischen Umsetzung und Vermeidung von Parallelstrukturen auf EU- und nationaler Ebene.
KMU stärker in den Blick nehmen
Letta widmet in seinem Bericht den KMU ein Kapitel, um "das Potenzial der europäischen KMU freizusetzen". Auch an anderen Stellen im Bericht werden KMU-relevante Analysen, Vorschläge und Maßnahmen diskutiert. Obwohl der Binnenmarkt der natürliche Ort für KMU sei, um zu wachsen, sich zu entwickeln und Innovationen voranzutreiben, würde dies in der Realität oft anders wahrgenommen. Viele KMU sähen den Binnenmarkt nicht als Chance, sondern als Hindernis. Letta nennt hierfür Gründe wie komplexe bürokratische Vorgänge, hohe administrative Hürden und ein Mangel an Informations- und Unterstützungsdiensten. Aus Sicht der gewerblichen Wirtschaft sind Maßnahmen zur Vereinfachung von Verwaltungsvorgängen dringend erforderlich.
Letta hält die bestehende KMU-Definition für zu restriktiv und empfiehlt eine Anpassung an die wirtschaftlichen Realitäten des 21. Jahrhundert. Eine klare Unterscheidung zwischen "Mid-Caps" und großen Unternehmen bei der Anwendung von EU-Verordnungen würde passendere Standards ermöglichen und das Wachstum sowie die gleichberechtigte Teilhabe im Binnenmarkt fördern. Beide Forderungen sind aus Sicht der deutschen Wirtschaft zu unterstützen: Die Schwellenwerte der KMU-Definition aus dem Jahr 2003 sollten angehoben werden, und es sollte eine Mid-Cap-Kategorie geschaffen werden, auch um Unternehmen den Zugang zu EU-Innovationsprogrammen zu erleichtern.
Bürokratie abbauen und Bessere Rechtsetzung umsetzen
Der Abbau von Bürokratie solle größtenteils durch die Vereinfachung von bestehenden Gesetzen erfolgen, insbesondere durch die einheitliche Umsetzung in den Mitgliedstaaten. Um eine grundsätzliche "Bessere Rechtsetzung" sicherzustellen, fordert Letta, dass Stakeholder besser einbezogen werden, sowie Folgenabschätzungen zukünftig aus zwei Teilen bestehen sollten: Aufrufe zu Stellungnahmen und zielgerichtete Konsultationen.
Zudem sollten Folgenabschätzungen die präferierte "policy option" direkt zu Anfang auflisten und ihre Positiv- und Negativ-Aspekte klar herausarbeiten. Das kommissionsinterne Joint Research Center soll bei der Folgenabschätzung unterstützend tätig werden und mehr finanzielle Unterstützung erhalten. Dafür soll es aber auch überprüfen, ob die Implementierung der Gesetze in den Mitgliedstaaten gut erfolgt ist. Bestenfalls solle es nur Gesetzespakete wie bei "Fit for 55" geben, da so Gesetze im Schnitt besser aufeinander abgestimmt werden können.
Auch der Einsatz von Reallaboren und "Sunset Clauses" soll eine praktikablere Anwendung von Gesetzen sicherstellen. Während des Gesetzgebungsprozesses soll ein "Dynamic Impact Assessment" eingeführt werden, welches die originale Folgenabschätzung gemäß den Verhandlungen zwischen Parlament und Rat aktualisieren soll. Schließlich muss von den Institutionen darauf geachtet werden, dass die Gesetze die Grundsätze des Binnenmarktes nicht beeinträchtigen. Falls dies dennoch geschieht, muss die Kommission Gesetzesvorschläge zurückziehen. Schließlich solle sich die Kommission zeitliche Ziele zur Erreichung von Initiativen setzen, die im Zusammenhang mit Bürokratieabbau stehen.
Gerade im Hinblick auf die Vollendung der Kapitalmarktunion wird empfohlen, fortan mehr auf Verordnungen anstelle von Richtlinien zu setzen sowie delegierte und Durchführungsrechtsakte vermehrt zu nutzen. Zusätzlich solle in der interinstitutionellen Vereinbarung für die "Bessere Rechtsetzung" eine Art Wettbewerbsfähigkeitscheck das Gleichgewicht zwischen der gewöhnlichen Gesetzgebung und den delegierten und Durchführungsrechtsakten wahren.
Im Abschnitt zur Stärkung von grünen und digitalen öffentlichen Investitionen empfiehlt Letta schnellere Genehmigungsverfahren sowie die Einrichtungen von Foren, die die administrativen Kapazitäten der Mitgliedstaaten verbessern sowie den Austausch von "best practices" ermöglichen. Weiterhin wird auf die zunehmende Überforderung der Behörden eingegangen, woraus die oftmals schlechte beziehungsweise ungleiche Umsetzung der EU-Gesetze zurückzuführen sei. Um diesen Zustand zu verbessern, wird zum einen vorgeschlagen, das kommissionseigene "technical support instrument" zu nutzen, welches auf die Mitgliedstaaten zugeschnittene Modernisierungsvorschläge zur Verfügung stellt.
Bessere Rechtsetzung und Bürokratieabbau für KMU fokussiert sich im Bericht zumeist auf vereinfachte Verfahren, die Bereitstellung maßgeschneiderter Beratung sowie den Vorschlag Informationen besser zugänglich zu machen. Letta fordert im Hinblick auf die Arbeitnehmermobilität ein gemeinsames elektronisches Dokument für die A1- und die Entsendebescheinigung.
Bildung & Fachkräfte für morgen sichern
Die Schaffung eines europäischen Bildungsraumes zur Verbesserung der Zusammenarbeit zwischen den Bildungssystemen der Mitgliedstaaten ist laut dem Bericht entscheidend. Dies umfasst Initiativen wie den Europäischen Hochschulabschluss, um die transnationale Lernmobilität zu erleichtern. Während die Freizügigkeit innerhalb der EU aufrechterhalten werden soll, sollte auch die "Freiheit zu bleiben" sichergestellt werden, unter anderem durch die Unterstützung von Regionen, die mit einem Talentabfluss konfrontiert sind. Die EU sollte zudem die Einführung eines speziellen EU-Regimes für "digitale grenzüberschreitende Arbeitnehmende" in Betracht ziehen.
Haushalt und Finanzen durch Kapitalmarkt stärken
Für Enrico Letta gelten Finanzierungsfragen als Voraussetzung der Zielerreichung und als Basis einer digitalen und grünen Transformation, von Resilienz und Verteidigung. Zahlreiche Vorschläge sind bekannt aus den Ankündigungen der Eurogruppe und der Europäischen Zentralbank zur Kapitalmarktunion, sodass der Bericht diese eher verstärkt.
Neu ist beispielsweise die Forderung nach weniger Regulierung für Versicherungen, die als institutionelle Investoren auftreten. Letta schlägt auch eine Reduzierung der Bankenregulierung vor. Er fordert eine "Savings and Investments Union" und versteht diese als eine Zusammenfassung der Bankenunion, bei der die gemeinsame Einlagensicherung EDIS bislang fehlt, und der Kapitalmarktunion mit ihren zahlreichen Baustellen.
Des Weiteren fordert der Bericht grenzüberschreitende Anlage- und Sparprodukte, Garantieprogramme, vereinfachte Regeln für Mid-Cap Unternehmen, die Vereinheitlichung der Aufsicht und einen Digitalen Euro. Die Frage der Finanzierung von KMU wird demgegenüber kaum behandelt.
Mit Blick auf die Vorarbeiten für den nächsten Mehrjahres-Finanzrahmen (2028-2034) spricht Letta davon, dass die EU-Finanzierung als Antwort auf die bekannten Herausforderungen stark ausgeweitet werden müsse. Im Gegensatz zu der bislang erfolgreichen Strategie, mit öffentlichen Mitteln private Investitionen anzureizen – die Idee hinter dem "Juncker-Plan" und seinen Nachfolgern – möchte er aber offenbar die Anreizwirkung umdrehen: Hohe Geldflüsse institutioneller Investoren sollen für die Bereitschaft sorgen, dass auch die Mitgliedstaaten mehr Geld zur Verfügung stellen.
Steuern tauchen in den Letta-Vorschlägen an zahlreichen Stellen auf, in Forderungen nach Steuervorteilen (tax incentives), nach Betrugsbekämpfung oder nach einer einheitlichen steuerlichen Bemessungsgrundlage.
Innovation als fünfte Marktfreiheit
Um die Wettbewerbsfähigkeit zu steigern und Innovationen in Europa zu fördern, schlägt der Bericht die Einführung einer fünften Marktfreiheit vor. Diese könnte die Bereiche Forschung, Innovation, Daten, Kompetenzen, Wissen und Bildung abdecken und soll im Rahmen einer europäischen und zentral koordinierten Industriepolitik zur Entwicklung führender industrieller Ökosysteme beitragen. Aus DIHK-Sicht ist Innovation ein Schlüssel zu technologischer Souveränität. Technologieoffenheit spielt dabei jedoch eine besonders wichtige Rolle. Das Übersehen von weiteren innovativen Branchen durch die Fokussierung auf ausgewählte Sektoren gilt es zu vermeiden. Eine ausgeweitete Anwendung von Reallaboren, wie im Bericht vorgeschlagen, kann wichtige Impulse setzen, um Technologien auszuprobieren.
Industrie stärker unterstützen
Letta fordert, große Unternehmen in ihrem Wachstum zu unterstützen und als globale Player zu etablieren. Größe bedeutet allerdings nicht automatisch mehr Wettbewerbsfähigkeit – das zeigen die vielen "Hidden Champions" in Deutschland. Mit Blick auf die mittelständische Wirtschaftsstruktur Deutschlands sollte die EU aus DIHK-Sicht vielmehr die gesamte Wirtschaft unterstützen – und durch eine gute Standortpolitik stärken.
Der Bericht erwägt die Weiterentwicklung und Verallgemeinerung von "Important Projects of Common European Interest" (IPCEI) im Rahmen einer Europäischen Industriepolitik. Solche Maßnahmen, wie ein Markteingriff über die Subventionierung des Aufbaus von Produktionseinheiten im Rahmen von IPCEI, sollten jedoch nur in wenigen und besonders gut begründeten Ausnahmefällen zum Einsatz kommen. Insgesamt sollten sich IPCEI auf Forschung und Entwicklung zum Hervorbringen neuester, marktreifer Technologien konzentrieren oder den Aufbau großer Infrastrukturen unterstützen.