Fachkräftesicherung: Berufliche Bildung stärken – Fachkräftepotenziale heben
Seit Jahrzehnten ist die Berufliche Bildung in Deutschland Garant für qualifizierte Fachkräfte und eine niedrige Jugendarbeitslosigkeit, zugleich ist sie Vorbild für viele andere Länder. Gleichzeitig steht das Erfolgsmodell vor Herausforderungen. Vor allem infolge des demografischen Wandels fehlen den Betrieben zunehmend geeignete Bewerberinnen und Bewerber für eine duale Ausbildung. Die Stärkung und Weiterentwicklung der Beruflichen Bildung gehören daher zu den wichtigsten Aufgaben der IHK-Organisation. Die berufliche Aus- und Weiterbildung soll weiter so organisiert sein, dass sie unter sich rapide ändernden Rahmenbedingungen die Bedarfe der Unternehmen erfüllt und attraktiv für junge Menschen und angehende Fachkräfte ist. Eine erfolgreiche Fachkräftesicherung kann nur gelingen, wenn die gesamte Bildungskette in den Blick genommen wird – von einer guten frühkindlichen Bildung über Schule, Ausbildung oder Studium bis hin zur Höheren Berufsbildung (auch "Aufstiegsfortbildung").
Die Kompetenzen der EU sind in der Bildungspolitik auf eine unterstützende und ergänzende Funktion sowie auf die Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedsstaaten begrenzt. EU-Initiativen in der Bildungspolitik sollen die Verantwortung der Mitgliedstaaten für Lehrinhalte und die Gestaltung des Bildungssystems beachten und ausreichende Spielräume für flexible individuelle Wege auf nationaler Ebene lassen.
Folgende Leitlinien sollten das wirtschaftspolitische Handeln bestimmen:
Schülerinnen und Schüler benötigen eine systematische, möglichst frühzeitige, praxisorientierte und realistische Berufsorientierung. Von zentraler Bedeutung sind dabei betriebliche Praktika. Außerdem sollten alle Schulformen, auch Gymnasien, verbindlich über die Perspektiven einer dualen Ausbildung und anschließenden Höheren Berufsbildung als alternativen und gleichwertigen Bildungsweg zum Studium informieren. Die Wirtschaft ist bereit, sich hierbei einzubringen. Zusätzlich zur persönlichen Beratung durch Ausbildungs-, Berufsberater oder Ausbildungsbotschafter sollten digitale Formate, auch für Eltern, gestärkt werden.
Zur Vergleichbarkeit und Transparenz von Leistungen und Schulabschlüssen ihrer Bewerberinnen und Bewerber wünschen sich Unternehmen verbindliche, bundesweit vereinbarte und umgesetzte Bildungsstandards sowie mehr Angebote, die das Interesse für MINT-Berufe, ökonomische Grundlagen und das Unternehmertum stärken. Weitere Empfehlungen für eine bessere Vermittlung von erforderlichen Basiskompetenzen mit Blick auf die Ausbildungsreife in der Schulbildung hat die IHK-Organisation im Positionspapier "Schulische Bildung verbessern – Fachkräfte für die Wirtschaft sichern" veröffentlicht.
Um unrealistischen Berufswünschen vorzubeugen und Ausbildungsabbrüche zu reduzieren, ist es wichtig, junge Menschen mit ihren individuellen Voraussetzungen passgenau in Betriebe zu vermitteln. Dazu sollten die Jugendberufsagenturen unter Beteiligung der IHKs bundesweit gestärkt und zur ersten Anlaufstelle für junge Menschen bei der Berufswahl werden. Angesichts sinkender Bewerberzahlen und zahlreicher unbesetzter Ausbildungsplätze sollten politische Diskussionen über umlagefinanzierte Ausbildungsgarantien beendet werden. Betriebliche Ausbildung sollte stets Vorrang vor außerbetrieblicher Ausbildung haben, um die Chancen der Absolventen auf dem Arbeitsmarkt zu erhöhen. Förderangebote wie Einstiegsqualifizierungen, Assistierte Ausbildung und Mentorenprogramme sollten noch bekannter gemacht und weiterentwickelt werden. Wer ein Studium abgebrochen hat, sollte schnellstmöglich mit Ausbildungsbetrieben zusammengebracht werden.
Die Bundesregierung sowie die Wirtschafts- und Sozialpartner sollten sicherstellen, dass es weiterhin bedarfsgerechte Berufe gibt und diese regelmäßig und möglichst zügig überarbeitet werden. Die Themen Unternehmertum und berufliche Selbstständigkeit sollten in ausgewählten Ausbildungsordnungen verankert werden. Die IHKs stellen ihrer Expertise dabei gerne zur Verfügung. Bei der Entwicklung und Aktualisierung von Berufen sollte das Modell "Dual mit Wahl+" noch konsequenter umgesetzt werden. Dies ermöglicht eine flexible und ortsnahe Ausbildung, indem berufsübergreifende Kompetenzen in einer ersten Phase vermittelt werden und anschließend eine Spezialisierung in einer zweiten Phase erfolgt.
Bundesregierung, Bundesländer sowie die zentralen Partner in der Ausbildung sollten im Pakt für Berufliche Schulen für starke und leistungsfähige Berufsschulen sorgen. Diese benötigen Investitionen in eine gute Ausstattung der Schulgebäude mit einer verlässlichen Infrastruktur, modernen Lehrmitteln sowie ausreichend und gut aus- und weitergebildeten Lehrkräfte. Die Digitalisierung der Berufsschulen sollte parallel zur Entwicklung in der Wirtschaft vorangetrieben werden.
Rückläufige Azubi-Zahlen erschweren die wohnort- und betriebsnahe Beschulung. Lösungsansätze sind weniger ausdifferenzierte Berufsbilder, die Zulassung kleinerer Fachklassen sowie eine vereinfachte länderübergreifende Beschulung.
Europaweit braucht es eine höhere politische und gesellschaftliche Wertschätzung der beruflichen Bildung. Die Europäische Kommission sollte auf das Ziel hinarbeiten, praxisnahe und qualitativ hochwertige berufliche Aus- und Weiterbildung mit hohen Lernanteilen im realen betrieblichen Arbeitsumfeld, unter Einbeziehung der Wirtschaft und abgestimmt auf die betrieblichen Bedürfnisse weiter in der EU zu verbreiten.
Die duale Ausbildung muss weiter mit berufstypischen und bundeseinheitlichen Prüfungen abschließen, damit Ergebnisse aussagekräftig und für die Unternehmen bundesweit vergleichbar sind. Rechtliche Hürden für den flexiblen Einsatz ehrenamtlich Prüfender im Berufsbildungsgesetz sollten schnellstmöglich abgeschafft, die Prüfertätigkeit noch besser unterstützt und öffentlich gewürdigt werden. Modernisierungen von Berufen sollten den Aufwand für die Prüfenden sowie die zuständigen Stellen möglichst nicht erhöhen. Bei der Weiterentwicklung der Prüfungen sollten die Chancen der Digitalisierung zum Vorteil von Auszubildenden, Betrieben, Berufsschulen und Prüfenden genutzt und Rahmenbedingungen wo nötig angepasst werden. Digitale Prüfungsformen sollten insbesondere dann genutzt werden, wenn der Umgang mit digitalen Medien später im beruflichen Alltag gefordert ist.
Die IHKs werden die Möglichkeiten einer schrittweisen Nachqualifizierung ausbauen und über 25-jährige Menschen ohne Berufsabschluss dabei unterstützen, durch Teilqualifikationen oder die Validierung individueller beruflicher Fähigkeiten ihre Arbeitsmarktchancen zu verbessern und schrittweise einen beruflichen Abschluss zu erlangen.
Fremdsprachen und interkulturelle Kompetenzen werden angesichts der Internationalisierung vieler Unternehmen immer wichtiger. Zudem leistet Lernmobilität einen wichtigen Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung junger Menschen. Praktische Lern- und Arbeitserfahrung im Ausland, zum Beispiel durch das europäische Erasmus+ Programm, sollte nicht nur für Studierende selbstverständlich sein, sondern auch in der Beruflichen Bildung noch stärker durch einen Ausbau der finanziellen Unterstützung möglich gemacht werden. Um den betrieblichen Erfordernissen und auch den individuellen Möglichkeiten gerecht zu werden, sollten sowohl Kurzzeitaufenthalte von einigen Wochen als auch längere Aufenthalte von über drei Monaten und Gruppenaufenthalte im Ausland möglich sein.
Um mehr Unternehmen vom Mehrwert von Lernaufenthalten im Ausland zu überzeugen, braucht es aber auch in den Mitgliedstaaten regional verankerte und betriebsnahe Anlaufstellen für die Unternehmen zur Beratung, Vermittlung und Unterstützung für Unternehmen. Die Verfahren sollten weiter entbürokratisiert werden, damit insbesondere kleine und mittlere Unternehmen (KMU) Erasmus+ noch flexibler nutzen können. Zudem sollte ein "Deutscher Beruflicher Austauschdienst" (DBAD) analog zum Deutschen Akademischen Austauschdienst (DAAD) etabliert und mit Bundesmitteln unterstützt werden.
Unternehmen und Erwerbspersonen in Deutschland kommt die Vielfalt der beruflichen Weiterbildungsangebote zugute. Ob beispielsweise das eintägige Seminar, die von den Arbeitsagenturen geförderte Weiterbildung oder die im Berufsbildungsgesetz geregelte Höhere Berufsbildung mit ihren IHK-geprüften Abschlüssen: in der Regel gibt es eine Vielzahl passender Formate. Diese Vielseitigkeit und damit auch Flexibilität der beruflichen Weiterbildung sind wichtige Bausteine für die Fachkräftesicherung der Betriebe hierzulande. Daher kommt es entscheidend auf Rahmenbedingungen an, die im Interesse der Unternehmen und deren Beschäftigten ein funktionierendes, betriebsnahes und vielfältiges Weiterbildungsangebot weiterhin ermöglichen. Wichtig ist auch, dass eine effektive und möglichst gut vernetzte Weiterbildungsberatung Unternehmen und angehenden Fachkräften eine Orientierung bietet. Hier sind neben den IHKs auch beispielsweise Verbände und Arbeitsagenturen in der Verantwortung.
Weiterbildung sollte für Unternehmen, Beschäftigte und Arbeitssuchende in Zukunft noch selbstverständlicher werden – auch für Geringqualifizierte, Ältere oder berufstätige Mütter. Um dauerhaft individuelle Erwerbschancen zu verbessern und damit Unternehmen stets auf gut qualifizierte Fachkräfte setzen können, ist es notwendig, dass sich Arbeitnehmer während der gesamten Erwerbstätigkeit weiterbilden. Der Staat kann dies durch Anreizmechanismen wie zielgruppenorientierte Prämien- und Gutscheinmodelle flankieren, ohne dabei – etwa durch neue Regulierungen oder zusätzliche Freistellungsansprüche für Arbeitnehmer – Unternehmen in ihrer Flexibilität einzuschränken und ihnen einseitig die Kosten aufzubürden. Um auch weiterhin die Beteiligung Älterer an beruflicher Weiterbildung zu erhöhen, braucht es Weiterbildungsangebote, die das Lernverhalten von Älteren stärker berücksichtigen.
Insbesondere Weiterbildungen im Rahmen der Erwerbslosenqualifizierung sollten sich am betrieblichen Bedarf vor Ort vor allem der KMU orientieren, um den Übergang in die Unternehmen zu erleichtern. Die Gestaltung der Qualifizierungsprogramme sollte flexibel und leicht umsetzbar sein. Dabei sollten bei Bedarf auch arbeitsplatzorientierte Grundbildungen, zum Beispiel Alltagsmathematik, digitale (Grund-)Kompetenz oder Deutsch als Berufssprache vorgenommen werden, damit diesbezügliche Defizite der Arbeitnehmer betriebliche Abläufe nicht beeinträchtigen. Der Staat sollte das berufsbegleitende Lernen mit praxistauglichen Unterstützungsformaten begleiten – etwa durch das Meister- oder Aufstiegs-BAföG, dessen Weiterentwicklung Teil der politischen Agenda bleiben sollte.
Höhere Berufsbildung sollte – auch europaweit- als gleichwertige Alternative zur Hochschulbildung etabliert werden. Eine gesetzliche Grundlage für die nationalen Qualifikationsrahmen würde dazu beitragen, diese bekannter zu machen und deren Verbindlichkeit zu erhöhen. Fortbildungsabschlüsse der Höheren Berufsbildung wie zum Beispiel Bachelor Professional und Master Professional erreichen akademischen Abschlüssen vergleichbare Kompetenzniveaus. Höhere Berufsbildung sollte mit ihren international verständlichen Abschlussbezeichnungen eine Marke bilden – dies fördert auch die internationale Mobilität der Arbeitnehmer. Generell sollten alle Akteure diese Markenbildung unterstützen, indem sie noch besser über die guten Einkommens- und Beschäftigungsperspektiven informieren, die die Höhere Berufsbildung mit sich bringt,– bestenfalls bereits in den Schulen.
Die digitale Transformation muss auch in der Bildung gelingen – im Interesse der Unternehmen und der angehenden Fachkräfte. Für die erforderliche Basisinfrastruktur besteht ein besonderes Maß an öffentlicher Verantwortung, wie zum Beispiel bei einheitlichen Datenaustauschstandards, Nachweisen (sogenannte Credentials), Ablagen (sogenannte Wallets) und der Statistik. Hierbei sollten insbesondere die Belange der Unternehmen sowie Entwicklungen auf europäischer Ebene berücksichtigt werden. Vor allem die Kompetenz- und Bildungsbedarfe der Unternehmen sind eine wichtige Orientierung für die Lerninhalte. Die Betriebe sollten daher auch bei der Konstruktion virtueller Bildungsräume eng einbezogen werden – bis hin zu der Frage, wie Entwicklungen im Bereich der künstlichen Intelligenz mit dem Kompetenzerwerb angehender Fachkräfte effektiv verbunden werden können. Eine Stärkung des europäischen Standortes für neue Bildungstechnologien ist aus Sicht der Unternehmen richtig, auch um die betrieblichen Zugänge zu diesen zu erleichtern.
Auch angesichts des Trends zu akademischen Bildungsabschlüssen wächst aus Sicht der Wirtschaft die Verantwortung der Hochschulen, mit ihren von der öffentlichen Hand finanzierten Bildungsangeboten einen nachhaltigen Beitrag zur Fachkräftesicherung zu leisten. Die Beschäftigungsfähigkeit der Hochschulabsolventen und somit die Fachkräftebedarfe der Wirtschaft sollten bei Studienangeboten noch stärker in den Blick rücken. Gelingen kann dies insbesondere durch eine konsequente Integration von Praxisphasen in das Studium oder durch die Einbeziehung von Praxisvertretern in die Lehre. Regulatorische Maßnahmen für Praktika und Praxiserfahrungen sollten hinsichtlich ihrer potenziellen Folgen für die Betriebe und deren Bereitschaft, Praktika anzubieten, kritisch geprüft werden. Weitere wirtschaftsseitige Empfehlungen für eine bessere Hochschulbildung hat die IHK-Organisation in ihrem Positionspapier Praxisnahe Hochschulbildung für die Fachkräfte von morgen (PDF, 758 KB) verfasst.