Ungarn übernimmt zum 1. Juli turnusgemäß für sechs Monate den Vorsitz in der EU von Belgien. Ministerpräsident Viktor Orban wird die Gipfeltreffen der 27 EU-Staats- und Regierungschefs leiten und die Fachminister die Ministerräte.
Ungarn übernimmt die EU-Ratspräsidentschaft zum 1. Juli 2024
Prioritäten in herausfordernden ZeitenDas Programm der Ratspräsidentschaft unter dem Motto "Make Europe Great Again" nennt folgende sieben Prioritäten für die zweite Jahreshälfte:
- Ein neuer Wettbewerbsfähigkeitsdeal
- Stärkung der europäischen Verteidigungspolitik
- Eine konsequente und leistungsorientierte Erweiterungspolitik
- Eindämmung der illegalen Migration
- Die Zukunft der Kohäsionspolitik gestalten
- Eine Landwirte-orientierte Agrarpolitik
- Bewältigung der demografischen Herausforderungen
Folgende Themen sind für die deutschen Unternehmen besonders wichtig:
Wirtschaftliche und finanzielle Angelegenheiten
Im Bereich der Wirtschafts-, Steuer- und Finanzpolitik setzt sich die ungarische Ratspräsidentschaft vor allem für produktive Investitionen und für ein nachhaltiges Wachstum ein. Eine wesentliche Voraussetzung dafür sei Haushaltsdisziplin auf Ebene der Mitgliedstaaten, zusammen mit einer stärkeren europäischen Wettbewerbsfähigkeit sowie einer gesteigerten wirtschaftlichen Produktivität. Mit diesem Ziel hat die Umsetzung der neuen Regeln für die wirtschaftspolitische Steuerung ("Economic governance") Priorität.
Bei der Einnahmeseite des EU-Haushalts will die Ratspräsidentschaft Vorhersehbarkeit, Einfachheit und Transparenz. Die bestehenden und noch zu erwartenden Vorschläge der EU-Kommission für neue Eigenmittel wird sie auf diese drei Kriterien hin prüfen.
Im Bereich Steuern liegt der Schwerpunkt der ungarischen Präsidentschaft auf dem Voranbringen bereits vorliegender Steuerdossiers. Deren Beratung und Verabschiedung müsse mit Blick auf den Fortgang auf internationaler Ebene erfolgen und sich in dessen Grenzen bewegen. Die Ungarn legen Wert auf die Bekämpfung von Steuerhinterziehung und wollen Rechtssicherheit für Steuerzahler gewährleisten. Steuerpolitik biete die Chance, die Wettbewerbsfähigkeit europäischer Unternehmen zu steigern, indem man das Potenzial der Vereinfachung, Digitalisierung und effizienten Nutzung von steuerlichen Informationen nutze, so die Ratspräsidentschaft.
Binnenmarkt, Industrie und KMU-Politik
Die ungarische Ratspräsidentschaft beabsichtigt, Europas Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und die Produktivität innerhalb Europas zu verbessern. Sie nennt als erste Priorität einen "New European Competitiveness Deal". Bereits im April hatte der Europäische Rat einen solchen gefordert.
Der Ansatz, den die ungarische Ratspräsidentschaft verfolgt, soll auf einer technologieoffenen Industriestrategie und internationaler wirtschaftlicher Zusammenarbeit beruhen. Zusammen mit der Beteiligung von Wirtschaftsvertretern sollen gezielte europäische Maßnahmen zur Stärkung europäischer Unternehmen erwägt und ermittelt werden. Explizit werden Initiativen zur Unterstützung der europäischen Elektrofahrzeuge-Produktion in der Automobilindustrie erwähnt. Auch die Produktion von sogenannten Netto-Null Technologien in Europa wird hervorgehoben. Hier beabsichtigt die Ratspräsidentschaft, Investitionen zu mobilisieren und den Marktzugang für neue Technologien zu erleichtern. Generell möchte die Ratspräsidentschaft die Frage nach neuen Technologien mit einem horizontalen und sektorübergreifenden Ansatz angehen.
Die ungarische Ratspräsidentschaft schreibt Forschung und Innovation eine bedeutende Rolle bei der Wettbewerbsfähigkeit Europas zu. Sie plant daher verschiedene Initiativen unter anderem die Evaluierung der European Research Area Policy Agenda für die Jahre 2022-2024 sowie Ratsschlussfolgerungen zum Bereich Forschung und Innovation. Eine dieser Schlussfolgerungen soll sich dabei konkret auf neuartige Materialien ("advanced materials") beziehen.
Der "New European Competitiveness Deal" soll kleine und mittlere Unternehmen (KMU) unterstützen. Das Thema Wettbewerbsfähigkeit sollte aus Sicht der ungarischen EU-Ratspräsidentschaft horizontal angegangen und in der Konsultationsphase des Deal auch EU-Wirtschaftsakteure mit einbinden.
Mit Blick auf die Schlüsselrolle von KMU für die europäische Wirtschaftsleistung und den besonderen Schwierigkeiten, denen sie in Krisenzeiten ausgesetzt waren, möchte die Ratspräsidentschaft KMU krisenfester machen. Gleichzeitig sollen bürokratische Belastungen verringert und die Qualität der entsprechenden Gesetzgebung verbessert werden. Des Weiteren stellt die Ratspräsidentschaft die Einführung von zusätzlichen Unterstützungsmaßnahmen für KMU in Aussicht, ohne diese weiter zu präzisieren.
Handelspolitik & Global Gateway
Im Hinblick auf die Themen Global Gateway, global Konnektivität sowie strategische Partnerschaften möchte der ungarische Vorsitz insbesondere die wirtschaftliche Sicherheit sowie die wirtschaftliche Entwicklung der EU in der Welt vorantreiben. Dabei werden folgende Aspekte hervorgehoben: Es wird verstärkt auf den Ausbau von Handelsrouten, die Energiesicherheit und die regionale Stabilität in verschiedenen Regionen wie dem Südkaukasus, Zentralasien, Nordafrika und der Indopazifik-Region gesetzt. Die Implementierung der Global Gateway Strategie ist hierbei von besonderer Bedeutung, um Handels- und Investitionsverbindungen zu intensivieren und die Versorgungsketten zu sichern. Auch in Lateinamerika soll die Global Gateway Strategie genutzt werden, um in Bereichen wie Klimawandel, Konnektivität, Energie und Ernährungssicherheit eine gleichberechtigte Partnerschaft zu fördern.
Der Vorsitz möchte durch strategische Partnerschaften die Kooperation mit unmittelbaren Nachbarländern und Regionen der EU, einschließlich des Südkaukasus, Zentralasien, Nordafrika und dem Indopazifik fördern. Wichtige Partnerschaften umfassen auch den Golf-Kooperationsrat (GCC), die ASEAN-Mitgliedstaaten sowie bilaterale Beziehungen mit China und Indien. Ziel ist es, bestehende strategische Partnerschaften zu vertiefen und neue Kooperationen zu entwickeln. Zudem soll die Global Gateway Strategie in den Mitgliedstaaten gefördert werden, KMU und Exportkreditagenturen sollen eingebunden werden und die Liste der Flaggschiffprojekte für 2025 verabschiedet werden. Außerdem sollen Ratsbeschlüsse zur effektiven Umsetzung der Global Gateway Strategie angenommen werden.
Bürokratieabbau und Digitalisierung
Der ungarische Vorsitz fokussiert sich bedingt auf den Bürokratieabbau sowie die Reduktion von Berichtspflichten. Es gibt weder einen eigenen Abschnitt zum Bürokratieabbau, zur Besseren Rechtsetzung noch zur Initiative über die Kürzung der bestehenden Berichtspflichten um 25 Prozent. Stattdessen wird das Thema Bürokratieabbau bei einzelnen Gesetzesinitiativen aufgegriffen. Die Entlastung von KMU wird jedoch hervorgehoben. Folgende Gesetzesinitiativen möchten die Ungarn in den nächsten sechs Monaten angehen und dabei besonders auf die Reduktion von bürokratischen Lasten achten: die Spielzeugsicherheitsverordnung, die Verordnung zu Detergenzien und Tensiden, die Führerscheinrichtlinie sowie die Richtlinie zu Fahrverboten.
Zudem strebt der Vorsitz an, den Zugang zu Finanzmitteln für KMU zu verbessern und gleichzeitig die administrative Belastung für Unternehmen zu verringern. Im Digitalbereich soll ein besonderer Fokus auf die Zukunft der europäischen Telekommunikationspolitik gelegt werden. Aufbauend auf dem Weißbuch der EU-Kommission zu diesem Thema sollen Ratsbeschlüsse gefasst werden. In diesem Kontext soll eine Konferenz organisiert werden, auch die Einbindung von Drittländern ins EU-Roaming (insbesondere Ukraine und Moldawien) will die Ratspräsidentschaft voranbringen. Weiterhin soll diskutiert werden, welchen Einfluss Zukunftstechnologien auf die Wettbewerbsfähigkeit und die Nachhaltigkeit haben, was auch eine Evaluation des Digital Markets Act und Digital Services Act beinhaltet. Neben der Implementierung der erst kürzlich verabschiedeten KI-Verordnung sollen auch Gesetze zu Digitaler Identität, Interoperabilität und dem Single Digital Gateway vorangebracht werden. Nicht zuletzt soll das Bewusstsein für die Cybersicherheit in Europa gestärkt werden.
Energie und Umwelt
Im Bereich der Umweltpolitik ist zu beobachten, dass die Ziele des Green Deal zunehmend mit einem Streben nach mehr Wettbewerbsfähigkeit verknüpft werden. Als Themen werden besonders Wasserresilienz, Biodiversität, der Kampf gegen jegliche Form von Umweltverschmutzung, sowie Circular Economy hervorgehoben. Ein wichtiger Punkt ist der angekündigte Fokus auf die Unterstützung von KMU bei der Umsetzung von Umweltauflagen.
Ansonsten deutet sich eine Fortsetzung der Arbeit an nicht abgeschlossenen Dossiers an. Dazu gehören die Abfallrahmenrichtlinie, sowie die Verordnung zu End-of-Life Fahrzeugen und die Richtlinie zu Umweltaussagen (Green Claims). Hier unterstreicht die ungarische Präsidentschaft, dass sie die Arbeit der Belgier fortsetzen und eine politische Einigung erreichen will.
Transport und Verkehr
Im Transport- und Verkehrsbereich möchte die Ratspräsidentschaft die Konnektivität und Nachhaltigkeit des Sektors stärken. Ein Fokus soll dabei auf einer besseren Anbindung der Westbalkan-Staaten und intermodalen Hubs liegen. Geplant ist, eine Vielzahl von Gesetzen voranzubringen, deren Verhandlungen in der vergangenen Legislaturperiode noch nicht zu Ende geführt wurden: Dazu gehören Passagierrechte, weitere Elemente des "Greening Freight Transport Package" (zum Beispiel Eisenbahn-Management, Fortführung der Richtlinie zum Kombi-Verkehr) und die Führerscheinrichtlinie.
Beschäftigungspolitik
Für die ungarische Ratspräsidentschaft ist der Arbeits- und Fachkräftemangel in Europa eine zentrale Herausforderung, welche sie durch eine Erhöhung der Beschäftigungsquote unter der nicht erwerbsfähigen europäischen Bevölkerung bekämpfen möchte. Hier sollen allen voran die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Integration von Menschen mit Behinderung in den Arbeitsmarkt sowie die Arbeitsmarktbeteiligung von älteren Menschen eine wichtige Rolle spielen. Während diese Themen Teil eines ganzheitlichen Ansatzes der Bekämpfung des Arbeits- und Fachkräftemangels in Europa sind, dürfen aus Sicht der deutschen Wirtschaft andere Lösungsansätze wie die legale Einwanderung von Fachkräften aus Drittstaaten sowie die Integration von Geflüchteten am Arbeitsmarkt nicht negiert werden.
Kohäsionspolitik
Der aktuelle Bericht zur EU-Kohäsionspolitik habe gezeigt, dass nach wie vor starke Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten bestehen, was auch Auswirkungen auf den Binnenmarkt habe. Daher möchte die Ratspräsidentschaft insbesondere diskutieren, wie Kohäsionspolitik die Wettbewerbsfähigkeit und Beschäftigung stärken könne.
Rechtspolitik
Infolge der Krisen der letzten Jahre hat sich der politische Rahmen für staatliche Beihilfen aus Sicht Ungarns geändert. Ziel des aktuellen Ratsvorsitzes sei es daher, eine Debatte über die Überarbeitung der Regeln für staatliche Beihilfen anzustoßen, um die europäische Wettbewerbsfähigkeit und eine gesunde industrielle Entwicklung zu schützen.
Im Zusammenhang mit den Themen des Verbraucherschutzes ist hervorzuheben, dass die ungarische Ratspräsidentschaft beabsichtigt, das Dossier zur Änderung der Richtlinie 2013/11/EU über die alternative Beilegung verbraucherrechtlicher Streitigkeiten sowie der Richtlinien (EU) 2015/2302, (EU) 2019/2161 und (EU) 2020/1828 voranzutreiben, welche aufgrund des digitalen Wandels notwendig geworden sei.
Aus Sicht der ungarischen Ratspräsidentschaft spielen die Regeln für geistiges Eigentum, welche Innovationen fördern, eine Schlüsselrolle bei der Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen, während ein vorhersehbares Umfeld für die Lizenzierung von Rechten des geistigen Eigentums für die breite Einführung neuer Technologien unabdingbar sei. Um diese Ziele zu fördern, beabsichtige der ungarische Ratsvorsitz, bei den Verhandlungen über das EU-Patentpaket größtmögliche Fortschritte zu erzielen, insbesondere im Hinblick auf die Legislativvorschläge zum ergänzenden Schutzzertifikat für Arzneimittel, um die Wettbewerbsfähigkeit der pharmazeutischen Industrie der EU zu verbessern.
Unter dem Themenpunkt eines leistungsfähigen Europas beabsichtigt der ungarische Ratsvorsitz, die Verhandlungen über den Richtlinienentwurf zur Harmonisierung bestimmter
Aspekte des Insolvenzrechts weiterzuführen.