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Der überbordende Papierkrieg hält Unternehmer immer stärker von ihren eigentlichen Aufgaben ab
© Adobe / Firefly 3
Der überbordende Papierkrieg hält Unternehmer immer stärker von ihren eigentlichen Aufgaben ab
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Das Ausmaß an Regulierung und unnötiger Bürokratie hat sich in Deutschland zu einem ernsten Standortnachteil für Unternehmen entwickelt. Ob Green Deal, Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz oder EU-Verpackungsverordnung: Viele Regelwerke aus Berlin und Brüssel haben in deutschen Betrieben eine Rekordflut an neuen bürokratischen Belastungen ausgelöst.
95 Prozent der Unternehmen haben deshalb im DIHK-Unternehmensbarometer zur Europawahl 2024 den spürbaren Abbau von Bürokratie als eine der wichtigsten Erwartungen an die Wirtschaftspolitik formuliert. Politisch wird inzwischen auch oft Entlastung in diesem Bereich versprochen, doch die betriebliche Realität sieht trotz einzelner konkreter Schritte insgesamt ganz anders aus. Allein aus dem Green Deal sollen noch mehr als 60 Rechtsakte in deutsche Gesetze gegossen werden – die meisten davon entfalten belastende Wirkung in hiesigen Unternehmen. Zusätzliche Pflichten von der Bundes- und Landesebene kommen noch hinzu.
Entscheidend für eine Kehrtwende ist hier auch ein Mentalitätswechsel bei den Verantwortlichen. So fordert der Nationale Normenkontrollrat (NKR) in seinem jüngsten Jahresbericht zu Recht, den Bürokratieabbau zum Regelfall zu machen. Erfüllungsaufwand und Bürokratiekosten sollten innerhalb von vier Jahren um 25 Prozent gesenkt werden, mahnt er. Bereits im Sommer 2024 hat der NKR 60 konkrete Vorschläge unterbreitet. Dazu zählt unter anderem, die Landesbauordnungen bundesweit zu harmonisieren, bei Statistikpflichten Daten aus den Verwaltungsregistern zu nutzen sowie Förder- und Vergabeverfahren zu vereinfachen und voll zu digitalisieren.
Die Belastungen sind enorm: So schätzt die Bundesregierung die jährlichen Bürokratiekosten allein in der Wirtschaft auf 67 Milliarden Euro. In der aktuellen Legislaturperiode haben Bundesregierung und Bundestag die Wirtschaft zwar um etwa 3 Milliarden Euro entlastet, aber gleichzeitig sind viele neue Pflichten entstanden, die ihren Ursprung vor allem in Brüssel haben. Zum Beispiel verursachen Regelungen wie die Nachhaltigkeitsberichterstattung oder die EU-Lieferkettenrichtlinie neue Kosten, die in Summe die aktuellen Entlastungen aus Sicht der Unternehmen überkompensieren.
Eine Trendwende hin zu einer allgemeinen Entbürokratisierung nehmen die Unternehmen nicht wahr. Dabei ist zum Beispiel noch nicht einmal gut belegt, welchen Beitrag die Berichts- und Nachweispflichten bei der Transformation hin zu einer klimaneutralen Wirtschaft überhaupt leisten. Fest steht aber, dass die Vorgaben in den Betrieben in erheblichem Umfang Ressourcen binden, die Betriebe produktiver für Innovationen und Investitionen einsetzen könnten. Gleichzeitig beanspruchen die Überprüfung solcher Berichte oder aufwendige Planungs- und Genehmigungsverfahren zusätzlich Mittel der öffentlichen Verwaltung.
Es geht auch anders: Das kürzlich beschlossene vierte Bürokratieentlastungsgesetz (BEG IV) verfolgt einen grundsätzlich richtigen Ansatz. In über 25 Gesetzen werden "Schriftformerfordernisse" abgeschafft und digitale Lösungen eingeführt beziehungsweise akzeptiert, etwa im Nachweisgesetz oder bei den Aushangpflichten im Arbeitszeitgesetz. Auch die Ausstellung von elektronischen Arbeitszeugnissen wird mit dem BEG IV endlich möglich. Zudem soll die Verkürzung von Aufbewahrungsfristen für steuerliche Belege – leider nur um zwei Jahre – die Unternehmen immerhin jedes Jahr um mehr als 600 Millionen Euro entlasten.
Eine weitere Senkung des noch immer viel zu hohen Belastungsniveaus lässt sich aber nur gezielt angehen. Jahresbürokratieabbaugesetze und verpflichtende Praxis-Checks in allen Ressorts wären ein gutes Mittel, um die Bürokratie Schritt für Schritt abzubauen. Die neue Bundesregierung sollte den eingeschlagenen Weg zur Verringerung von Bürokratie fortsetzen und die vielen bisher noch nicht umgesetzten Vorschläge der Wirtschaft aufgreifen.
Dabei zeigen die Erfahrungen mit dem BEG IV, dass es einen Kulturwandel braucht, damit die Ergebnisse der Praxis-Checks auch Einzug in den Alltag von Unternehmen und Verwaltung halten. Statt "Können wir so nicht umsetzen" sind lösungsorientierte Ansätze erforderlich, also ein "Wie können wir diesen Vorschlag umsetzen?". Ideen gibt es reichlich, etwa die Anhebung von Bagatellgrenzen im Energieeffizienzgesetz, eine einfachere datenschutzkonforme Weiterleitung der elektronischen Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung von den Krankenkassen an Arbeitgeber sowie die Vereinfachung von Berichts- und Statistikpflichten. Bestehende Vorschriften sollten von allen Bundesministerien intensiv und im Dialog mit Beteiligten aus Wirtschaft und Verwaltung evaluiert und in einem jährlichen Gesetzgebungsverfahren kontinuierlich abgebaut werden.
Eine Kernherausforderung bleibt, dass bislang immer weiter neue Bürokratie hinzukommt – und damit die Anstrengungen zum Abbau konterkariert. Daher sollte die neue Bundesregierung die als Bürokratiebremse konzipierten "One-in-one-out"-Regelungen reformieren. Bislang sind umzusetzende EU-Regelungen ausgenommen – und auch Einmalaufwand beispielsweise bei der Einführung einer Regelung bleibt außen vor. Beides gilt es zu ändern.
Laut Bundesjustizministerium gehen mehr als die Hälfte der Bürokratielasten auf eine EU-Gesetzgebung zurück. Deshalb sollte die Bundesregierung über den Europäischen Rat stärker als bisher ihre Verantwortung auf EU-Ebene wahrnehmen und so die Bilanz einer umfassenden "One-in-one-out"-Regelung merklich verbessern.
Einfacher, schneller, digitaler – das sollte die wirtschaftspolitische Leitlinie der neuen Bundesregierung sein. Mit systematischen Ansätzen beim Bürokratieabbau kann sie das in ihren ersten Monaten direkt angehen und so den Wirtschaftsstandort Deutschland unmittelbar attraktiver machen.
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